Dieses Jahr war die Wall Street ein Schlag ins Gesicht. Der S&P 500, der meistbeachtete Index, schoss steil nach oben und verzeichnete ein Plus von 23 Prozent, womit er alle Erwartungen übertraf.

Selbst die aggressivsten Bullen wurden überrascht. Die Sell-Side-Analysten waren in Panik und revidierten ihre Ziele immer wieder, als der Index alle Grenzen überschritt.

Im Januar ging man noch davon aus, dass der Index stagnieren würde. Im Oktober schoss diese Zahl durch die Decke. Der S&P 500 sollte eigentlich nicht so hoch steigen. Aber so ist es nun einmal.

Bullen überrascht

Zu Beginn des Jahres setzten sich die Analysten bescheidene Ziele für das Jahresende und erwarteten einen S&P 500-Index von rund 4.000 Punkten. Bis April steigerten sie ihn auf 4.500, bis Juli auf 5.000 Punkte und im Oktober lag das Ziel bei über 5.500 Punkten.

Doch keine dieser Zahlen hat Bestand gehabt. Nun gingen einige Analysten wie David Kostin von Goldman Sachs sogar so weit, für das Jahresende eine 6.000er-Marke vorherzusagen. Wall Street konnte da nicht mithalten.

Die wirtschaftlichen Faktoren, die hier eine Rolle spielen, lassen sich nicht leugnen. Der Arbeitsmarkt hat sich als robust erwiesen und sich stärker erholt als erwartet. Die Inflation, der Dorn im Auge aller, scheint besiegt zu sein.

Die Zinsen, die hoch geblieben waren, haben begonnen zu sinken. Der KI-Boom, den im Januar noch niemand vollständig eingepreist zu haben schien, steht jetzt im Mittelpunkt.

All diese Faktoren haben den S&P 500 höher getrieben, als jede Prognose es je hätte erwarten können. Dieselben Analysten warnen jedoch auch vor den langfristigen Folgen.

Kostin erhöhte sein Jahresendziel auf 6.000 Punkte und prognostizierte, dass der Index im nächsten Jahrzehnt jährlich nur um 3% schrumpfen werde. Tatsächlich ist das kaum 1%.

Das klingt vielleicht widersprüchlich, macht aber Sinn. Ein heißer Markt kann nicht ewig heiß bleiben. Im Moment genießen die Anleger die Entwicklung, aber es könnte ein Sturm aufziehen.

Wie Kostin sagte, dürfte der Markt in den nächsten 12 Monaten um satte 10 % zulegen, doch die langfristigen Aussichten sind nicht so rosig.

Stimmungslage treibt kurzfristige Gewinne

Kurzfristig reitet der Markt auf dem, was Ökonomen als „animal spirits“ bezeichnen. Die Leute sind begeistert. Die Anleger kaufen ein.

Einer Umfrage der Bank of America zufolge haben weltweite Vermögensverwalter ihre Anleihenbestände auf ein Niveau reduziert, das seit 23 Jahren nicht mehr erreicht wurde.

Aktien sind derzeit der Favorit, und es ist nicht schwer zu erkennen, warum. Aktien haben den größten Zuteilungsschub seit der Rallye nach der Pandemie im Jahr 2020 erlebt. Und da Bitcoin darauf besteht, mit ihnen korreliert zu bleiben, erlebt es derzeit ebenfalls einen massiven Anstieg.

Ein wichtiger Grund für den Optimismus ist politischer Natur. Viele Anleger wetten darauf, dass Donald Trump das Weiße Haus zurückerobert. Sie glauben, dass dies gut für Aktien und Kryptowährungen, aber schlecht für Anleihen sein wird.

Auch die American Association of Individual Investors berichtete von einer optimistischen Stimmung unter Privatanlegern. Ihre regelmäßigen Umfragen zeigen, dass mehr Menschen den Markt optimistisch als pessimistisch sehen. Das ist das Gegenteil von 2009, als die Stimmung nach der Finanzkrise auf den Tiefpunkt fiel.

Ein weiterer kurzfristiger Impuls ist die Berichtssaison. Analysten wie Kostin prognostizieren, dass die Unternehmensgewinne weiter steigen werden.

Goldman Sachs erwartet eine Erhöhung der Gewinnmargen und glaubt zudem, dass die Konjunktur besser aufgestellt ist als allgemein erwartet – ein weiteres Signal für eine Stärke des Aktienmarkts im nächsten Jahr.

Bewertungswarnungen und langfristige Probleme

Kurzfristig sieht es zwar gut aus, aber bei der Bewertung wird es kompliziert. Hohe Aktienkurse heute bedeuten niedrigere Renditen morgen. So lautet die Regel.

Je teurer eine Aktie, desto schlechter ist ihre Performance über ein Jahrzehnt. Kurzfristig kann sie natürlich weiter steigen, aber über zehn Jahre hinweg sind die Bewertungen ein Schlag ins Gesicht. Im Moment sieht der S&P 500 deutlich überbewertet aus.

Das bekannteste Maß für den langfristigen Wert ist das CAPE-Verhältnis (die Abkürzung steht für zyklisch bereinigtes Kurs-Gewinn-Verhältnis).

Dieses Verhältnis berücksichtigt die Inflation bei den Aktienkursen und glättet den Konjunkturzyklus, indem es die Aktienkurse mit den durchschnittlichen Erträgen der letzten zehn Jahre vergleicht.

Wenn das CAPE-Verhältnis einen solchen Höchststand erreicht, neigt es in der Vergangenheit dazu, dass der Markt stark fällt. Diesmal ist das jedoch nicht passiert. Nach dem Höchststand im Jahr 2021 sank das CAPE-Verhältnis kurzzeitig und erholte sich Ende 2022 wieder.

Passenderweise kamen zu diesem Zeitpunkt KI-Tools wie ChatGPT auf den Markt und lösten eine neue Welle des Optimismus aus. KI hat den Markt über Wasser gehalten, und einige fragen sich, wie lange das so bleiben wird.

Anleihen vs. Aktien: Ein beunruhigender Vergleich

Die überschüssige CAPE-Rendite, die die Differenz zwischen der Rendite des S&P 500 und der Rendite 10-jähriger Staatsanleihen misst, ist ausgesprochen beunruhigend.

Die beiden Male in der Geschichte, als die Rendite negativ wurde (was bedeutete, dass Aktien teurer waren als Anleihen), lagen unmittelbar vor der Weltwirtschaftskrise und dem Platzen der Dotcom-Blase.

Beide Male waren dies hervorragende Gelegenheiten, Aktien zu verkaufen. Wir erleben gerade etwas unheimlich Ähnliches. Die Konjunkturpakete aus der Pandemie-Ära und die beispiellose Geldpolitik haben die Prognosen wahrscheinlich verzerrt.

Niemand hätte erwartet, dass die Märkte mit so viel Liquidität überschwemmt werden. Aber die Zahlen lügen nicht. Langfristig werden Aktien Anleihen nicht schlagen.

KI und die Markterholung nach der Pandemie haben die Hauptarbeit geleistet, aber ihre Auswirkungen lassen nach. Während die Welt wieder zur Normalität zurückkehrt, könnte dem Markt die Puste ausgehen.

Ein weiteres großes Problem auf dem heutigen Markt ist die Konzentration. Eine kleine Gruppe von Aktien sorgt für den Großteil der Gewinne.

Die Top-10-Aktien im S&P 500 machen mittlerweile einen massiven Teil des Index aus und die Daten von Goldman Sachs zeigen, dass wir uns im 99. Perzentil der historischen Konzentration befinden.

Mit anderen Worten: Wir befinden uns auf unbekanntem Terrain. Wenn einige wenige Aktien den Markt kontrollieren, wird er weniger diversifiziert und volatiler, was natürlich schlechte Nachrichten für Kryptowährungen wären.