Warum bleiben die Märkte ruhig, während der Nahe Osten in Flammen steht? Ist Bitcoin wirklich immun gegen geopolitisches Chaos oder übersehen wir hier etwas Größeres?
Inhaltsverzeichnis
Raketen fliegen, Bitcoin stabil
Vom Ausverkauf im August zur Rallye im September
Liquidität und Zentralbankpolitik schützen Krypto
Warum die Märkte trotz zunehmender geopolitischer Spannungen ruhig geblieben sind
Was erwartet uns als nächstes?
Raketen fliegen, Bitcoin stabil
Vor einem Jahr trat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu selbstbewusst vor die UN-Generalversammlung und feierte den scheinbar wachsenden Frieden im Nahen Osten. Heute sieht die Lage jedoch völlig anders aus.
Der Krieg in Gaza dauert nun schon fast ein Jahr, doch der Konflikt hat sich über die Region hinaus ausgeweitet. Durch die Beteiligung des Irans sind die Spannungen zwischen Israel und der Hisbollah deutlich eskaliert, was die Angst vor einem größeren regionalen Krieg weckt.
Ein wichtiger Wendepunkt ereignete sich am 27. September, als der Anführer der Hisbollah, Hassan Nasrallah, Berichten zufolge bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde. Nasrallah erstickte, nachdem er in seinem Geheimbunker gefangen war, der von 80 Tonnen bunkerbrechender Bomben getroffen worden war.
Derselbe Angriff tötete auch den IRGC-Kommandeur Abbas Nilforoshan in Beirut und versetzte den vom Iran unterstützten Milizen in der Region damit einen schweren Schlag.
Diese Todesfälle ließen die Spannungen deutlich zunehmen und veranlassten den Iran nur wenige Tage später zu Vergeltungsmaßnahmen. Am 1. Oktober startete der Iran einen groß angelegten Raketenangriff auf Israel und feuerte dabei etwa 180 Raketen ab – eine Eskalation, die noch heftiger war als der Beschuss im April.
Viele der Raketen wurden von der israelischen Verteidigung abgefangen, einige trafen jedoch auch Militärstützpunkte, Restaurants und Schulen. Die iranische Revolutionsgarde gab für ihre Angriffe, bei denen auch Hyperschallraketen zum Einsatz kamen, eine Erfolgsquote von 90 % an.
Angesichts dieser eskalierenden Feindseligkeiten könnte man erwarten, dass die Märkte so reagieren wie in der Vergangenheit. Doch die jüngste Dynamik erzählt eine andere Geschichte.
Die Ermordung des Hamas-Führers Ismail Haniyeh im Juli löste sowohl auf den traditionellen Märkten als auch im Kryptowährungssektor Schockwellen aus und löste einen Kurseinbruch des Bitcoin-Kurses (BTC) aus.
Doch trotz der gestiegenen Spannungen nach Nasrallahs Tod und den iranischen Raketenangriffen widersetzten sich die Kryptomärkte – insbesondere Bitcoin – dem üblichen Muster von Panikverkäufen während des Konflikts.
Warum also reagierten die Märkte im April und August so heftig, schienen aber gegenüber dem jüngsten Aufflammen der Krise widerstandsfähig zu sein? Lassen Sie uns genauer untersuchen, was sich geändert hat und was dies für die Zukunft bedeuten könnte.
Vom Ausverkauf im August zur Rallye im September
Am 31. Juli kam es zu dramatischen Veränderungen auf der politischen Bühne des Nahen Ostens, als der führende Hamas-Führer Haniyeh in Teheran ermordet wurde.
Haniyeh war seit den Anfängen der Hamas im Jahr 1987 eine wichtige Persönlichkeit. Er war sogar Premierminister der Palästinensischen Autonomiebehörde und der ranghöchste Hamas-Führer, der seit Beginn des Krieges zwischen Israel und Hamas getötet wurde. Sein Tod war ein schwerer Schlag für die palästinensische militante Gruppe und führte zu steigenden Spannungen in der gesamten Region.
Als die Nachricht bekannt wurde, reagierten die Märkte sofort. Bitcoin, das bei rund 66.500 Dollar lag, stürzte steil ab und verlor innerhalb weniger Tage fast 10 Prozent seines Wertes. Bis zum 4. August war es auf 60.500 Dollar gefallen.
Den globalen Aktienmärkten erging es nicht viel besser. Zwischen dem 31. Juli und dem 4. August stürzte der NASDAQ von 17.600 auf 16.200 Punkte – ein brutaler Rückgang von 8 Prozent. Der S&P 500 folgte diesem Beispiel und fiel von 5.500 auf 5.150 – rund 6,5 Prozent.
Die Anleger waren verunsichert. Die Märkte, die bereits durch den makroökonomischen Druck ins Wanken geraten waren, gerieten noch stärker ins Wanken, und Krypto-Assets begannen sich wie risikoreiche Technologieaktien zu verhalten.
Und der Zeitpunkt hätte nicht schlechter sein können. Während dieser geopolitische Schock sich entfaltete, sah sich die Weltwirtschaft mit wachsenden Rezessionsängsten konfrontiert. Wenn man dann noch die Abwicklung des Yen-Carry-Trades und Gerüchte über Stagflation hinzunimmt, sah die Lage ziemlich düster aus.
Dann kam der 5. August, heute als „Schwarzer Montag der Kryptowährungen“ bekannt. Die wichtigsten Krypto-Assets mussten erneut einen schweren Schlag einstecken. Der Bitcoin stürzte auf 53.000 $ ab, ein erstaunlicher Rückgang von 20 % gegenüber seinem Höchststand Ende Juli.
BTC-Preisdiagramm (Juli – August): Quelle: TradingView
Ethereum (ETH) und Solana (SOL) gerieten in dieselbe Abwärtsspirale und verzeichneten hohe Verluste. Die Anleger waren in Panik, weil sie befürchteten, dass ein umfassender Krieg im Nahen Osten ausbrechen könnte, was ihre Rezessionsängste nur noch verstärkte.
Schneller Vorlauf bis September 2024: Der Konflikt ist erneut eskaliert. Die Hisbollah, die mächtige, vom Iran unterstützte bewaffnete Gruppe im Libanon, hat ihre Angriffe auf Israel verstärkt.
Am 20. September feuerte die Hisbollah einen Raketenangriff auf den Norden Israels ab und zielte dabei auf Städte wie Haifa, was zu einer Eskalation der Spannungen in der Region führte.
Als Reaktion darauf reagierte Israel mit Hunderten von Luftangriffen auf Stellungen der Hisbollah im Libanon. Es handelte sich um den blutigsten Schlagabtausch zwischen den beiden Ländern seit dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Jahr 2006. Die Luftangriffe forderten über 490 libanesische Opfer und verschärften den Konflikt erheblich.
Am 1. Oktober eskalierte die Situation dann durch den Iran, der einen groß angelegten Raketenangriff auf Israel startete und die Region damit näher an eine umfassendere Konfrontation brachte.
Trotz der Schwere des eskalierenden Konflikts haben die Kryptomärkte diesmal anders reagiert. Statt einen starken Abschwung zu erleben, ist Bitcoin relativ stabil geblieben und hat nur wenige Prozentpunkte verloren.
Seit dem 2. Oktober liegt der BTC-Kurs bei etwa 61.800 USD, was einem Rückgang von etwa 3 % in den letzten 24 Stunden entspricht, sich aber immer noch über der kritischen Unterstützungsmarke von 60.000 USD hält. Ethereum hingegen verzeichnete einen noch stärkeren Rückgang, verlor über 6 % und liegt derzeit bei etwa 2.480 USD.
Liquidität und Zentralbankpolitik schützen Krypto
Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Zeiträumen ist das allgemeinere makroökonomische Umfeld. Im August hatten die globalen Märkte noch mit einer Flut negativer Daten zu kämpfen.
Damals war Chinas Erholung nach der Pandemie ins Stocken geraten und die US-Notenbank hatte keine Anzeichen einer Lockerung ihrer restriktiven Geldpolitik gezeigt. Die Liquidität versiegte auf breiter Front.
Dann kam es im August zur Überraschung: Die Bank of Japan (BoJ) erhöhte zum ersten Mal seit 2007 die Zinsen. Diese Entscheidung löste Schockwellen auf den globalen Märkten aus.
Warum? Viele Anleger hatten die extrem niedrigen Zinsen Japans ausgenutzt, indem sie sich billige Yen liehen und diese Mittel in höher rentierliche Vermögenswerte investierten, eine Strategie, die als „Yen-Carry-Trade“ bekannt ist. Als die BoJ jedoch die Zinsen erhöhte, stiegen die Kosten für die Yen-Leihgelder, was die Anleger dazu zwang, diese Positionen aufzulösen.
Infolgedessen stiegen sie schnell aus riskanteren Anlagen, darunter Kryptowährungen, aus, was zu einem rasanten Preisverfall führte. Bitcoin, Ethereum und andere Kryptowährungen gerieten in den Verkaufsrausch, als die Liquidität aus den Märkten abfloss.
Im Oktober sieht die Lage schon anders aus. Am 18. September unternahm die Federal Reserve einen überraschenden Schritt und senkte den Leitzins um 50 Basispunkte. Damit pumpte sie dringend benötigte Liquidität zurück in das globale Finanzsystem.
Gleichzeitig hat China eine Reihe von Konjunkturmaßnahmen ergriffen, um das schwächelnde Wachstum wieder anzukurbeln.
Historisch gesehen entwickeln sich Kryptowährungen tendenziell gut, wenn es auf den Märkten genügend Liquidität gibt, und genau das sehen wir jetzt. Der jüngste Aufschwung von Bitcoin und Ethereum ist größtenteils auf die Umstellung der Fed auf eine lockerere Geldpolitik zurückzuführen.
Doch Liquidität ist nicht der einzige Faktor, der eine Rolle spielt. In den letzten Wochen haben die Ängste vor einer weltweiten Rezession nachgelassen. Die US-Arbeitsmarktdaten sind besser als erwartet ausgefallen, und obwohl die Inflation noch immer Anlass zur Sorge gibt, scheint sie sich abzuschwächen.
All dies hat dazu beigetragen, die Sorgen über eine harte Landung der US-Wirtschaft zu zerstreuen und den Anlegern etwas mehr Vertrauen zu geben, um an riskanteren Vermögenswerten wie Kryptowährungen festzuhalten.
Ein weiterer großer Unterschied zwischen August und Oktober ist die Sichtweise institutioneller Anleger auf Bitcoin. Seit der Ankündigung der Fed gab es bei Bitcoin starke Zuflüsse in Spot-BTC-ETFs, während es nur wenige Tage lang Abflüsse gab.
Die Gesamtsumme der verwalteten Vermögenswerte aller Spot-BTC-ETFs ist sprunghaft angestiegen und liegt nun bei über 50 Milliarden Dollar. In Zeiten politischer Unruhen, wie den anhaltenden Konflikten im Nahen Osten, zieht Bitcoin also tatsächlich Zuflüsse an, anstatt Panikverkäufe auszulösen.
Allerdings muss man bedenken, dass die Erholung, die wir jetzt erleben, nicht bedeutet, dass die zugrunde liegenden Probleme gelöst sind.
Chinas Wirtschaft kommt immer noch nicht richtig in Schwung und auch die USA sind noch nicht über den Berg, die Möglichkeit einer leichten Rezession ist noch nicht abzusehen. Die Zinssenkung der Fed hat für eine vorübergehende Erleichterung gesorgt, aber tiefere strukturelle Probleme bleiben ungelöst.
Warum die Märkte trotz zunehmender geopolitischer Spannungen ruhig geblieben sind
Während sich die Spannungen zwischen Israel und der Hisbollah verschärfen, bleiben die Märkte überraschend ruhig und stehen dem eskalierenden Konflikt beinahe gleichgültig gegenüber.
Um diese ungewöhnliche Marktreaktion besser zu verstehen, hat crypto.news Branchenexperten befragt, deren Erkenntnisse eine Veränderung in der Herangehensweise der Anleger an geopolitische Risiken im Jahr 2024 aufzeigen.
Anna Kuzmina, Gründerin von What the Money, glaubt, dass diese scheinbare Gleichgültigkeit auf die überwältigende Flut globaler Nachrichten zurückzuführen sein könnte. Angesichts der ständigen Berichterstattung über Konflikte und Krisen auf der ganzen Welt könnten Anleger diese besondere Situation als weniger einschneidend erachten als andere.
„Die im Vergleich zu früheren Vorfällen begrenzten Auswirkungen des aktuellen Nahostkonflikts auf die Krypto- und Aktienmärkte könnten auf die schiere Menge an geopolitischen Nachrichten zurückzuführen sein, die den Markt überschwemmen. Anleger könnten diesen Konflikt einfach als eingedämmt betrachten oder sich mehr auf Inflation und Zinssätze konzentrieren.“
Kuzmina hob auch hervor, wie sich das Verhalten der Anleger im Laufe der Zeit verändert hat. In der Vergangenheit lösten geopolitische Spannungen oft heftige Reaktionen auf den Märkten aus, doch heute scheinen sowohl die globalen als auch die regionalen Märkte besser gerüstet zu sein, um solche Störungen zu verkraften, ohne in Panik zu geraten.
Daria Morgen, Forschungsleiterin bei Changelly, bereicherte das Gespräch mit einer weiteren Perspektive. Sie merkt an, dass Krypto-Investoren, die längere Phasen der Volatilität durchlebt haben, geopolitische Risiken mit einer anderen Einstellung angehen.
„Krypto-Investoren bewerten geopolitische Risiken anders als Börseninvestoren. Sie haben oft eine höhere Toleranz gegenüber Volatilität, die durch den jüngsten Bärenmarkt und wilde Preisschwankungen geprägt ist.“
Morgen nannte die kontinuierliche Natur des Kryptohandels als Schlüsselfaktor. Im Gegensatz zu traditionellen Finanzmärkten, die feste Handelszeiten haben, bietet die 24/7-Natur des Kryptohandels den Anlegern mehr Flexibilität, ihre Positionen neu zu bewerten, ohne in Panik geratene Entscheidungen treffen zu müssen.
„Sie haben gelernt, auch in Zeiten der Volatilität durchzuhalten, und dieser Konflikt ist zwar ernst, scheint aber kein Auslöser für Panik zu sein – zumindest noch nicht.“
Während Krypto-Händler offenbar Geduld zeigen, weist Kuzmina darauf hin, dass Teilnehmer an traditionellen Aktienmärkten oft eine defensivere Haltung einnehmen und ihre Portfolios bei geopolitischer Unsicherheit in der Regel in Richtung sichererer Vermögenswerte umschichten.
Morgen vertritt eine ähnliche Ansicht und erklärt, dass auch die dezentrale Natur der Kryptowährungen eine Rolle spielt. Sie bieten einen gewissen Schutz vor den Schocks, die traditionelle Finanzsysteme normalerweise erschüttern.
„Krypto-Investoren sehen digitale Vermögenswerte als Absicherung gegen traditionelle Marktinstabilitäten. Diese dezentrale Natur hält Krypto einigermaßen von globalen politischen Problemen isoliert.“
Morgen betont, dass geopolitische Konflikte zwar weiterhin für Marktbewegungen sorgen können, sich die Mehrheit der Anleger jedoch eher auf die unmittelbaren wirtschaftlichen Sorgen konzentriere, die sich direkt auf ihre Portfolios auswirken.
„Unmittelbare wirtschaftliche Sorgen wie Inflation und Zinssätze überschatten diese Konflikte. Investoren reagieren stärker auf globale Ereignisse, wenn diese klare, direkte wirtschaftliche Konsequenzen haben.“
Kuzmina stimmt dem zu und weist darauf hin, dass die Anleger im heutigen informationsreichen Umfeld zunehmend wählerischer geworden seien, was die Auslösung von Marktbewegungen durch Nachrichtenereignisse angehe.
„Investoren werden täglich mit Informationen bombardiert. Sie sind selektiver geworden und ignorieren den Lärm, sofern er nicht direkt ihre Gewinne beeinflusst.“
Zwar scheinen die Kryptomärkte im heutigen geopolitischen Umfeld anpassungsfähiger zu sein, sie bleiben jedoch weiterhin anfällig für Änderungen der Regulierungspolitik, die diese neu gewonnene Stabilität stören könnten.
Was erwartet uns als nächstes?
Der Nahe Osten ist noch immer ein Pulverfass, und auch wenn die Märkte bislang ruhig geblieben sind, ist das keine Garantie dafür, dass auch in Zukunft alles glatt läuft.
Im Moment heißt es, wachsam zu bleiben. Die Ruhe, die wir derzeit beobachten, ist vielleicht ein Zeichen für einen reifenden Markt, aber sie ist auch eine Erinnerung daran, dass sich die Dinge schnell ändern können.
In den kommenden Wochen und Monaten wird es entscheidend sein, die weltweiten Ereignisse, die Politik der Notenbanken und die Marktstimmung im Auge zu behalten.
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